Welche Farbe hat Strom? oder: Die Höhe der Wahrscheinlichkeit, Elektronen zum Erröten zu bringen

Ein nicht ganz so wissenschaftliches Märchen zum Thema „Befreit die Steckdosen“

Es begab sich im Lande Germanien im Jahre Einsneunneunneun, zum 8. Monde, die Mär, dass es der grossen Energiezauberer Wille sei, das gemeine Volk möge sich doch bitteschön seinen Lieferanten für freie Elektronen in Form einer wechselwirkenden Energiequelle – genannt die „grosse Kraft“ oder einfach nur „der Saft“ – von nun an selbst aussuchen. Bisher war es so, dass die Bewohner des Landes Germanien gar nicht wussten, dass da ein grosser Energiezauberer war, sie dachten alle, die Kraft zum Kochen, zum Waschen, zum des Abends lesen – und vor allem zum Anschauen von nichtssagenden, dummdreisten und verblödenden Talkshows – käme aus der Steckdose. Diesem kleinen runden komischen Dinger, die aussehen wie Schweineschnäuzchen, deren Besitzer man in die Hauswand eingemauert hat. Und plötzlich kam da der grosse Energiezauberer und sagte zum Volke der Germanen: Gehet hin und suchet Euch einen Strom-Provider.

Grosse Verwirrung herrschte im Lande Germanien. Wieso wollte der grosse Energiezauberer plötzlich nicht mehr der Lieferant der grossen Kraft sein? Und wieso gab er seine Macht plötzlich weiter an Unterzauberer, die dem grossen Zauberer doch alle dienen mussten, denn immerhin benutzten diese die grossen Seile, die überall in der Landschaft hingen und die dem grossen Zauberer vom Anbeginn der Leuchtstofflampe gehört hatten. Und die den grossen „Saft“, wie die zauberhafte Energie von den Eingeweihten (die, die die Schweineschnäuzchen in die Wand mauerten) genannt wurden, in sich trugen. Und wieso wollten einige der Vasallen des grossen Zauberers (die, die in dem Kasten wohnten, indem immer so böse Themen wie „Mein Freund fingert immer an sich herum – vor allem, seit er sich beim Fischessen verschluckt hat“ oder „Meiner ist grösser als deiner – aber dafür nutzt sich mein Hut schneller ab“ besprochen wurden) plötzlich wissen, welche Farbe die grosse Energie hatte?

Überall liefen sie herum, die Vasallen des Energiezauberers: „Welche Farbe hat Strom?“ Diese Frage stellten sie vielen Germanen, Alten und Jungen, Weisshaarigen und Schwarzhaarigen, Dummen und… äh… weniger Intelligenten. Die germanischen Gefragten wussten nicht, was sie darauf antworten sollten.

„Rot…“, sagte einer von ihnen, „Rot wie die Liebe… wenn man ihn anfasst, dann kribbelt es, als ob du deine Liebste sehen würdest.“

„Quatsch“, sagte ein anderer, „er ist blau. So wie Du!“

„Nein“, meinte ein Dritter,“ er ist rosa. So wie die eingemauerten Schweinchen.“

„Du bist selbst ein Ferkel.“ schnitt der Erste ihm das Wort ab. „Der Saft ist rot. Ich habe es gesehen.“

„Wo denn, du Hirni?“ fragten die anderen ziemlich garstig.

Dem dabeistehenden Vasallen (die, die zu den grossen Zauberern und Unterzauberern gehörten) gefielen die Antworten der drei jedoch überhaupt nicht. „Merkt Euch das, ihr dummen Bauern: Der Saft ist gelb! Und nicht rot, blau oder rosa!“

„Er könnte aber auch grün sein…“ mischte sich eine etwas dickliche Frau ein, „grün wie die Hei…“

Der Vasall hob die Stimme: „ER IST GELB!!! Merkt es Euch, wenn ihr wieder gefragt werdet. Er ist gelb, so gelb wie ein chinesischer Ming-Vasenverkäufer! GELB!!!“

Die Frau schien nicht überzeugt: „Aber als mein Mann letztens den Guckkasten mit Wasser kühlen wollte, weil die in den Talkshows so heisse Eisen angefasst haben, da gab es einen Knall, und mein Mann sah danach grün au…“

„WENN HIER NOCH EINER BEHAUPTET, DER SAFT SEI NICHT GELB, DEN SOLL DER LICHTBOGEN TREFFEN!“ Wenn Vasallen der Saftzauberer solche Drohungen ausstossen, wird es Zeit, die Gegend zu verlassen und das Maul zu halten. Also – der Saft ist gelb. Die Diskussionsteilnehmer verliessen eilig den Ort des Geschehens.

Kein Mensch in Germanien wusste, wieso die grosse Kraft die Farbe Gelb haben sollte. Aber wenn die Vasallen im grossen Guckkasten – und ausserhalb – etwas verkündeten, dann war dies Gesetz. Es sei denn, sie verkündeten solche Dinge wie in den Talkshows, zum Beispiel „Ich kann immer…“ (wobei das Sprengen des Rasens im Garten gemeint war, wogegen die Nachbarn des Rasensprengers nichts einzuwenden hatten, so dass er den Rasen immer sprengen konnte) oder „Mein Mann hat keinen Schwanz“ (was nur für die Vereinsmitglieder des „Manta Fever e.V.“ interessant war, da nur diese als Vereinszeichen den bekannten Fuchsschwanz bekamen, bis auf Herrn Meier, weil zu der Zeit die Schwänze ausgegangen waren). Diese Aussagen waren nicht bindend, eher lustig oder informativ, vielleicht auch informativlustig. Aber das der Saft gelb ist – das war neu für die Leute im Lande Germanien.

Eines Tages tauchte aus einem anderen Land ein Mann mit weissem Haar und gepflegtem Aussehen auf. Er war auf der Durchreise und wollte in Germaniens Wirtshäuser die landesüblichen Speisen wie „Sauerkraut mit Eisbein“, „Pizza Margherita“, „Spaghetti Bolognese“ oder „Döner mit alles“ probieren. Als er im Wirtshaus sass und auf seine Bestellung wartete – ein grosses Glas der einheimischen Spezialität „Bier“ vor sich, hörte er plötzlich ein Gespräch am Nachbartisch:

„Die Vasallen haben gesagt, der Saft sei gelb. Also halte dich daran und frevle nicht.“ Der lange dünne Mann mit der tiefen Stimme flüsterte seine Worte dem anderen, kleineren zu. „Aber…“, antwortete dieser, „niemand hat je gesehen, welche Farbe der Saft hat!“.

„Sei ruhig!“, zischte der Erste, „Der Saft ist gelb – und dabei bleibt es.“

„Entschuldigt, meine Herren, dass ich mich einmische,“, sagte da der der Weißhaarige, „aber ich fürchte, sie unterliegen da einem Irrtum. Sehen sie, ich bin ein Gelehrter, ein Forscher, ich beschäftige mich seit jeher mit der grossen Kraft. Ich habe schon die Schenkel eines Frosches damit zum Tanzen gebracht. Ich habe die Haare junger Blondinen in die Höhe gehoben, nachdem sie gefönt waren, ich habe den Draht der Zahnklammer meiner Schwester zum Glühen gebracht – wobei mir gerade einfällt, dass ich die Arztrechnung noch begleichen muss. Sehen sie – ich kenne den Saft – aber eine Farbe, die hat er nicht.“

„BLASPHEMIE!“, schrie da der lange Lulatsch. „Ihr versündigt Euch am grossen Kraftzauberer, an den Unterzauberern und an den Vasallen!“

„Papperlapapp!“ winkte der Gelehrte ab. „Das ist Humbug. Reiner Schwachsinn. Strom hat keine Farbe – es sei denn…“

Seine Gesichtszüge nahmen den Ausdruck des angestrengten Nachdenkens an.

„…Kann es sein, dass der gelbe Saft von einer bestimmten Art von Vasallen nur propagiert wird?“

Der grosse Kerl überlegte kurz: „Ja… das sind die Vasallen mit dem gelben Käppchen auf dem Kopf.“

„Aha!“ sagte der Gelehrte: „Dann könnte man doch glattweg annehmen, dass der Saft nur dann gelb ist, wenn die Gelbkäppchen es so wollen, nicht wahr?“

Der kleinere der beiden Streithähne wandte sich an sein Gegenüber: „Siehste? Ich wusste, dass da was faul ist.“

„Naja…“, meinte der Grosse, „…in Wirklichkeit hat eigentlich noch nie jemand den Saft gesehen, sei es in Rot, Schwarz, Grün, Gelb oder…“

„Na also“, sagte der Gelehrte, „da haben wir ja den Kaktus Knacksus. Es ist eine gezielte Manipulation Eures Geistes, eine Beeinflussung Eurer Psyche.“

„Unserer Psch…Psss…Püsch…???“

„Eurer Psyche! Man manipuliert Euch solange, bis Ihr glaubt, der Saft sei gelb. Und dann kommt es: Jedesmal, wenn Ihr etwas Gelbes seht, wollt Ihr es kaufen, weil Ihr denkt, es sei Saft. In Wirklichkeit sind es aber unnütze Sachen wie Abzeichen, Kartoffelchips oder Mitgliedsausweise der F.D.P.“

„Man, das is‘ ja’n Ding!“, sagte der Grosse mit erstauntem Gesichtsausdruck. „Und was kann man dagegen machen?“

Der Gelehrte aus dem anderen Land biss genüsslich in seinen inzwischen heiss gemachten „Döner mit alles“ und wartete mit seiner Antwort, bis der Krautsalat mit der anständigen Portion Knoblauchsosse in der Speiseröhre verschwunden war. „Zuerst einmal solltet ihr gegen die Vasallen aufbegehren. Wenn sie behaupten, der Saft sei gelb, dann sagt den anderen, der Saft sei farblos. Bringt diese Nachricht überall hin, begehrt auf und sorgt für Aufklärung.“

Nachdem die beiden anderen sich die Tränen aus den Augen gewischt hatten (nicht wegen der Erkenntnis, sondern wegen der Knoblauchwolke aus des Weisen Mund), standen sie auf, um die Kunde vom farblosen Saft zu verbreiten.

Einige Monde später waren die Vasallen geschlagen. Die Mär vom gelben Saft war dahingegangen, wo sie hingehörte – in den Mülleimer der Zeit. Der Frieden kehrte langsam wieder ein ins Lande Germanien. Die Unterzauberer hatten zwar immer noch die Macht, ihre Vasallen waren immer noch ihre Werkzeuge der Verdummung, der Saft war zwar farblos, aber immer noch teuer – und trotzdem waren alle glücklich. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem der große Lulatsch sich die Frage stellte, wer dafür verantwortlich war, dass die Schweinchen immer noch in den Wänden steckten. Als er nach Tagen des Überlegens zu dem Schluss kam, dass er das Rätsel nur lösen könne, wenn der die Schweinchen seiner Wände befreien würde, fing er an, mit einem langen Metallstift im Rüssel eines Schweinchens zu wühlen, um es zu einer Regung zu bewegen. Dabei muss er wohl in Berührung mit dem Saft gekommen sein, denn das letzte, was man von ihm hörte, war ein „Mir wird schwarz vor Augen.“

Aber das ist eine andere Geschichte…

J.Borngießer, 22.8.1999

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